Die Freiheit der Wissenschaft

Zur politischen Ökonomie des Wissenschaftsbetriebs

Seit den 60er Jahren proklamiert der radikalere Teil linker Studenten unentwegt sein Interesse, der Hochschulbetrieb solle den Lernenden Bildungsprozesse ermöglichen, durch welche die politische und soziale Emanzipation sämtlicher Gesellschaftsmitglieder gefördert werde. Welchen Inhalt und welche Formen solche Bildungsprozesse haben müssten und wie es den solcherart Gebildeten gelingen soll, einen Fortschritt der Gesellschaft als ganzer zu bewirken, darüber sind sich die linken Studenten durchaus uneins und nicht selten etwas ratlos. Immerhin geht ihre Forderung nach einer „emanzipatorischen Bildung für alle“ davon aus, dass der Großteil der Gesellschaftsinsassen aktuell vom Zugang zur Hochschulbildung ausgeschlossen ist. Statt jedoch einmal genauer nachzuforschen, warum das eigentlich so ist, für welche gesellschaftlichen Funktionen der Staat, der das nationale Bildungswesen und dessen Staffelung organisiert, den Bildungsbetrieb zurichtet, statt also die objektiven Zwecke des akademischen Betriebs zu bestimmen und positives Wissen ins Feld zu führen, argumentieren protestierende Studenten allzu häufig moralistisch:

Sie beklagen sich bei den Bildungspolitikern und der Öffentlichkeit darüber, dass das Studium ihrem Ideal von „emanzipatorischer Bildung“ nicht entspricht. Diese sei Teil des Allgemeinwohls, und ein wahrhaft „demokratisches Gemeinwesen“ müsse an ihrer Förderung notwendig interessiert sein. Zum Beleg der Kompatibilität ihres linken Ideals mit dem demokratischen Gemeinwohl werden einschlägige Grundrechtsartikel aus der Verfassung zitiert: die Freiheit der Persönlichkeitsentfaltung, die Freiheit der Berufswahl und das Verbot von Diskriminierung, die Freiheit der Wissenschaft. Die staatliche Hochschulorganisation verletze angeblich, und zudem in immer krasserer Weise, diese Grundrechte. Auf diese Weise wird ein Bild von verantwortungslosen Politikern gezeichnet, die statt zum Wohle des Volkes zu regieren, indem sie die Grundrechte auf allen Gebieten des Gemeinwesens durchsetzten, nur der Profitmaximierung der Wenigen dienten. Furchtbar „undemokratisch“ gehe es zu in unseren Hochschulen.

Diese Argumentation erklärt weder das Warum und Wozu des Bildungsbetriebs im allgemeinen und der aktuellen Bildungsreformen im besonderen noch dasjenige der vielzitierten Grundrechte, sondern affirmiert den Glauben daran, der demokratische Rechtsstaat sei doch eigentlich, zumindest seiner offiziellen Verfassung nach, ein Instrument der allgemeinen Wohlfahrt, und die Staatsagenten würden, wenn sie nur verfassungskonform agierten, dem Volke dienen. Gerade deshalb findet diese moralistische Argumentation, im Verein mit den Forderungen nach besserer Ausstattung der Hochschulen, bei Journalisten, Kirchen und Gewerkschaften einigen Anklang. Die Bildungspolitiker selbst werden nicht müde, öffentlich ihre Übereinstimmung mit den Idealen und Zielen der Studenten zu bekunden, und erklären so den Streit um die Zwecke des Bildungswesens zu einem Streit über die opportunen Mittel zu ihrer Realisation, nicht ohne zugleich für diese Realisation ein wenig mehr „Realismus“ bei den Studenten einzuklagen.

Diese Art von öffentlichem Protest gegen die staatliche Zurichtung der Hochschulen ist gescheitert, nicht weil sich zu wenige Mitglieder der Zivilgesellschaft hinter ihn gestellt hätten, sondern weil er inhaltlich verkehrt ist. Will man der herrschenden Bildungspolitik wirkmächtig entgegentreten, dann muss man zunächst verstehen, welchen Zwecken der staatlich administrierte Forschungs- und Lehrbetrieb an den Hochschulen objektiv dient. Sind diese Zwecke als falsch erkannt, dann lässt sich mit diesem Wissen auch agitieren, und dann wird es auch möglich, wirklichen Widerstand zu organisieren.